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Immer wieder hört man, dass unser Gesundheitssystem das Beste der Welt sei und andere viel schlechter seien. Es hat nur noch nie jemandem genutzt nach dem Schlechterem zu schielen, wenn es am eigenen System an vielen Ecken und Enden fehlt. Wie ich das belegen will? Nun, ich kann das anhand einiger Fälle zeigen, und wenn ich noch mehr Zeit bekomme, fallen mir sicher noch weitere ein. Aber zur Sache:
Akuter Personalmangel im Krankenhaus
Mein Vater litt unter untypischem Parkinson, wie die Ärzte das nannten – seit Jahren schon. Nun wurde es so schlimm, dass meine Mutter sich nicht mehr kümmern konnte. Plötzlich stürzte er und konnte auch nicht mehr sprechen. Die herbeigerufene Caritas-Pflegestation brachte ihn in unser nächstgelegenes Bezirkskrankenhaus im Landkreis München. Gemeinsam mit meiner Mutter besuchte ich ihn so bald wie möglich. Die Zustände, die ich dann erlebte waren – vorsichtig formuliert – menschenunwürdig.
Folgendes lief ab: Gemeinsam mit meiner Mutter betrat ich die Abteilung. Weit weg vom Krankenzimmer meines Vaters hörte ich ein seltsames Geräusch, das einem völlig übersteigertem Schluckauf ähnlich war. Ich sah meine Mutter an: „Ja, das ist Vati“. Mir schwante Schlimmes. Eilig gingen wir zu ihm. Der Anblick, der sich mir bot, war entsetzlich. Mein Vater hatte einen derart starken Schluckauf, dass bei jedem „Hicksen“ das ganze Bett wackelte. Ich machte auf der Stelle kehrt und ging auf die Suche nach einem Arzt. Es war Samstag – ich konnte keinen finden. Aber wenigstens fand ich eine freundliche Krankenschwester. Sie folgte meiner Bitte mitzukommen. „Wie lange hat er diesen Zustand denn schon?“ „Ja, seit Mittwoch etwa. Das ist die Folge einer Lungenentzündung.“ „Und da gibt es keine Hilfe, kein Medikament dagegen?“ „Da gab es schon etwas, aber dieses Mittel wurde verboten.“ „Ein anderes gibt es nicht?“ „Das weiß ich nicht, ich bin nur Krankenschwester.“ Sie ging zu meinem Vater und sah ihn an. „Er weint ja, die Tränen laufen ihm herunter.“ „Ja wundert Sie denn das? Allein schon der Muskelkater, den er sicherlich hat, wird ihm unermessliche Schmerzen bereiten.“ Sie nickte und bat mich ins Nebenzimmer.
Dort zeigte sie mir ein medizinisches Buch, schlug es unter dem Stichwort „Schluckauf“ auf und wir lasen beide. „Bei Schluckauf helfen Beruhigungsmittel und Muskelrelaxantien“, war unter anderem dort zu lesen. „1: Wann hat er das letzte Mal Beruhigungsmittel bekommen und 2.: Haben Sie es schon mal mit Magnesium versucht?“ Da ich selbst ein Buch über Mineralstoffe geschrieben hatte, wusste ich, dass Magnesium entspannend auf die Muskulatur wirkt und nur bei sehr hohen Dosen Nebenwirkungen zeigt. „Na ja, das letzte Mal hat er am - so weit ich es weiß - Dienstag ein Beruhigungsmittel bekommen und von Magnesium weiß ich nichts.“ Schön langsam begann ich wütend zu werden. „Dann geben Sie ihm doch wenigstens ein Beruhigungsmittel.“ Sie nickte. Dann beratschlagten wir (es war immer noch kein Arzt in Sicht), was man tun könne. „Da hilft nichts, Sie geben ihm ein Beruhigungsmittel und fragen einen Arzt – wenn einer auftaucht - ob Magnesium helfen kann.
Ich fahre umgehend nach Hause, setze mich an meinen PC und suche nach Medikamenten, die bei Schluckauf helfen.“ Sie nickte. „Ich habe morgen wieder Dienst, kommen Sie doch vorbei, dann sehe ich, was wir noch tun können.“ Gesagt getan. Nun bin ich Biologin und habe nur sehr begrenzt die Möglichkeit nach Medikamenten zu recherchieren. Für viele Internetportale ist eine Zulassungsnummer erforderlich. Ein Arzt hat hier ganz andere Chancen. Dennoch: ich recherchierte kaum 20 Minuten, schon hatte ich zwei Listen von Präparaten: eine Liste mit Medikamenten, die weniger starke Wirkungen und Nebenwirkungen haben, eine weitere, wenn auch diese nicht helfen. Damit bewaffnet, fuhr ich wieder ins Krankenhaus.
Dort angelangt, fragte ich nach dem Befinden meines Vaters, der immer noch einen unveränderten Schluckauf hatte. „Na ja, nach dem Beruhigungsmittel konnte er wenigstens 3 bis 4 Stunden schlafen, sonst hat sich nichts geändert.“ „Und Magnesium?“ „Das kann ich nicht verabreichen und einen Arzt dafür fand ich auch nicht.“ Ich händigte der hilfsbereiten freundlichen Krankenschwester meine Medikamentenliste aus: „Ich habe nicht eines, sondern mehrere Präparate gefunden, die helfen können.“ Sie sah sich die Liste an: „Ich werde sie weitergeben, wenn ein Arzt kommt. Mehr kann ich nicht tun.“
Die Schwester hatte mir ihre Telefonnummer gegeben, damit ich anrufen konnte, um mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Als ich dann von zu Hause aus wieder anrief: „Ich höre keinen Schluckauf mehr (das Schwesternzimmer lag direkt neben dem Krankenzimmer meines Vaters). Ist das richtig?“ „Ja, Sie haben recht. Eines der Medikamente, die Sie vorschlugen, hat geholfen!“ Da schau her! Eine Biologin schlägt also Ärzten Präparate vor, die helfen!
Aus diesem Erlebnis ergeben sich einige Fragen: „Wie viele Ärzte haben bei Schwerkranken am Wochenende Dienst? Sind sie derart überlastet, dass sie keine 10 Minuten Zeit haben ein Medikament für einen Menschen zu suchen, der sich gotteserbärmlich quält und vor lauter Schmerzen lautlos weint? Wer entscheidet darüber, wie lange ein Arzt Dienst hat und wie viel Zeit er oder sie für einen schwer kranken Patienten haben darf?
Bei der Gelegenheit sei erwähnt, dass mein Vater Privatpatient, also privat krankenversichert war und sehr viel Geld für seine Behandlung zahlen konnte. Daraus ergibt sich die Frage: Was wäre mit einem „normalen“ Kassenpatienten passiert? Hätte er das hilfreiche Medikament überhaupt bekommen?
Ich sprach mit einigen anderen Bekannten über mein Erlebnis. Es gab 2 Parteien: die einen hatten selbst einen derartigen Fall in der Familie und nickten. Sie berichteten von ähnlichen Fällen. Die anderen hatten keinen Fall in der Familie und waren nur entsetzt.
Seltsam. Warum denke ich nur an den Spruch von „der reichen Bundesrepublik“? Ein angeblich reiches Land, das es sich leistet schwer kranke Menschen zu Tode zu quälen? Oh ja! Wir sind reich – reich an Entscheidungsträgern, denen die menschliche Gesundheit und ihr Wohlbefinden – freundlich formuliert – völlig gleichgültig ist! Hauptsache die Kasse klingelt! Weh dem, der krank, pflegebedürftig und damit abhängig wird!
Ein anderer Fall im Krankenhaus
Man kann dies nun als Einzelfall abtun, daher möchte ich ein zweites Beispiel anführen, das ich wiederum selbst erlebt habe:
Ich musste ins Krankenhaus und kam in mein Zimmer. Neben mir lag eine Dame, die sehr froh war, mich als „Nachbarin“ zu haben. Der Grund war nicht die spontane Sympathie, die sie für mich empfand – nein, die Nachbarin, die sie vorher hatte war dement. Sie stand immer mal wieder auf, ging zu ihrer Bettnachbarin und sah ihr in die Augen. Dann meinte sie: „Passen sie auf, dass Ihnen niemand die Augen aussticht!“ Dann ging sie auf die Suche nach einer Schere, die sie auch fand. Meine Bettnachbarin war bettlägerig und konnte nur wenige Schritte gehen. Sie können sich sicher vorstellen, dass sie kein Auge mehr schließen konnte, aus lauter Angst, die Demenzkranke will ihr zeigen, wie gefährlich das Leben im Krankenhaus ist...!Es fand sich auch niemand, der sich um die Demenzkranke kümmerte.
Nun, noch einmal: wie wenig Personal will man sich noch leisten? Kann man Kranken eine derartige Behandlung angedeihen lassen? Ich möchte eines klarstellen: Das soll keine Hetzkampagne gegen Ärzte und Krankenschwestern sein. Sie können nichts dafür, dass es so wenig Personal in Krankenhäusern gibt, dass sie sich nicht ausreichend um die Patienten kümmern können. Ein Arzt erzählte mir, dass am Wochenende so viele Patienten sterben, wie die 5 Tage davor. Kümmert er sich in einem Stockwerk um einen schwer kranken Patienten, stirbt inzwischen im anderen Stockwerk, für das er ebenfalls zuständig ist, ein anderer. Dies sei den entsprechenden Leuten auch bekannt.
Liest man sich das alles durch, bekommt man Angst! Angst selbst krank zu werden und in eine ähnliche Situation zu geraten.
Die Medikamentenzulassung
Szenenwechsel. Angeblich fehlt es am Geld. Unser Gesundheitssystem krankt nicht nur im Krankenhaus. Ich sage Ihnen sicherlich nichts Neues, wenn ich darauf hinweise, dass Multiple Sklerose keine einfach zu ertragende Krankheit ist. Die übliche Behandlung ist, dass sich die Betroffenen regelmäßig Interferon oder Glatirameracetat spritzen. Die Nebenwirkungen sind beträchtlich, angefangen, dass die Einstichstelle schmerzt. Nun wurde durch Zufall (wirklich: durch Zufall!) ein Medikament entdeckt, das man nicht spritzen muss und das kaum Nebenwirkungen hat: Fumarsäure. Es ist obendrein billigst – für einige Cents - herzustellen und der MS-Patient würde theoretisch nicht mehr 18.000.- Euro im Jahr kosten. Es ist auch klar: Fumarsäure wird zugelassen. Nur wann? In regelmäßigen Abständen wird die Zulassung hinausgeschoben. Zuerst hieß es 2012. Dieses Jahr ist nun zu Ende. Dann hieß es: im Frühjahr 2013. Auch da wird es noch nicht zugelassen, jetzt redet man vom Herbst 2013. Auch dann ist es fraglich. Wenn ein Präparat zugelassen werden soll, dürfen es Behörden noch ein Jahr liegen lassen, bevor sie es endgültig freigeben, erzählte mir kopfschüttelnd ein Arzt.
Geht´s noch?! Da hört sich doch alles auf!!! Es handelt sich bei MS ja nicht um einen Schnupfen oder eine andere Krankheit, die kaum Beschwerden verursacht und bald wieder vergessen ist. Diejenigen, die betroffen sind, wissen, was ich meine. Und da dürfen Behörden die Zulassung ein Jahr liegen lassen??? Prof. Dr. Christof Klötzsch meint dazu: „Die europäische Zulassungsbehörde läßt sich da auch nicht in die Karten schauen.“ Super! Hoch lebe die Demokratie!
Damit ja kein Arzt auf die Idee kommt das Präparat einfach privat zu verschreiben, um seinen Patienten zu helfen, macht man ihm klar, dass er oder sie zahlen muss, wenn der Patient einen Schaden davonträgt. Also: wieder sind nicht die Ärzte schuld, sondern Behörden, bzw. deren Entscheidungsträger, die es dem mitleidigen Arzt und vor allem dem Patienten schwer, ja sehr schwer machen.
Denkt man dann noch daran, dass die bisherigen Medikamente bei MS ca. 18.000.- Euro im Jahr einbrachten, Fumarsäure nur noch einen Bruchteil davon kostet – aber halt! Hörte doch mein Mann gestern in einer Nachrichtensendung, dass das neue Präparat nicht billiger sein darf als das alte! Das heißt: es ist gar nicht im Interesse der Pharmafirmen, wenn das neue Präparat nicht auf den Markt kommt. Da bleibt einem nur die Sprachlosigkeit, ob einem derart menschenfeindlichen System.
Dann noch die Demenzkranken und der schriftliche Kram dazu!
Wer einen Demenzkranken betreut ist genauso wenig zu beneiden wie der Erkrankte selbst: Der Papierkram, der für die Kranken zu erledigen ist, nimmt ungeahnte Dimensionen an. „Dafür benötigen Sie folgende Unterlagen...“ Kaum hat man diese zusammen und kann sie endlich losschicken (Seufz...), dauert es einige Wochen: „Es fehlt noch das Arztrezept“, oder der Betreuungsdienst muss noch etwas liefern, einen Beleg, dass der oder die Betreuerin wirklich die Kosten haben wird und, und, und. Man muss auch jedes Jahr wieder einen Antrag stellen, dass der Demenzkranke immer noch Pflegegeld benötigt, denn er oder sie hätte ja gesund werden können. Bei Demenz?!
Ich möchte Sie nicht langweilen. Der Amtsschimmel wiehert in Deutschland besonders laut. Die Zeit, die man damit verbringt irgendwelche Formulare auszufüllen, Anträge zu stellen, ärztliche Stellungnahmen einzufordern etc. kann man nicht mit dem Demenzkranken verbringen. Auch hier: ein menschenunwürdiges System.
Anderen – betroffen oder nicht – fallen sicher ähnliche Situationen ein. Sieht man dann die Nachrichten und hört, dass die und jene Bank gerettet werden muss, Milliarden (wenn nicht gar Billiarden) dafür aufgewendet werden müssen, packt einem eine gnadenlose Wut. Dann hört man noch, dass im Jahr 70 Raketen die Erde verlassen, um Milliarden ins Weltall zu pusten, z. B. um den Mars zu besiedeln! Währenddessen werden Kranke allein gelassen in ihrer Not – Milliarden, die helfen würden unheilbare Krankheiten heilbar zu machen. Man bedenke, die Gesundeten kosten dann vielleicht nichts mehr oder wenig! Denkt man an all dies, dann ist man fassungslos.
Resümee: Armes, deutsches Gesundheitssystem.
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